Wie entsteht Terrorismus?
„Une jeunesse allemande – Eine deutsche Jugend“ von Jean-Gabriel Périot

 

Eigentlich wollte Jean-Gabriel Périot einen Film über Holger Meins drehen. Meins faszinierte den französischen Filmemacher, weil er, bevor er sich im Oktober 1970 der Roten Armee Fraktion anschloss, filmische Mittel angewandt hatte, um seine politischen Ziele zu verwirklichen – genau wie Périot selbst. Allerdings ist Périot des Deutschen nicht mächtig. Auf der Suche nach Material kontaktierte er deshalb eine ganze Reihe deutscher Kollegen. Gleich mehrfach suchte er den Filmemacher Gerd Conradt auf, der gemeinsam mit Meins die Deutsche Film- und Fernsehakademie in West-Berlin besucht hatte und von dem bereits 2002 eine Dokumentation zum Thema in die Kinos kam: „Starbuck – Holger Meins“.
Erst mit der Zeit realisierte Périot, dass in deutschen Filmarchiven nicht nur von und über Meins allerlei Material schlummerte, sondern auch über andere Protagonisten aus der „ersten Generation“ der RAF. So entstand ein Film, der nicht nur der Frage nachgeht, weshalb jemand wie Meins im Alter von 29 Jahren „die Kamera mit der Waffe tauschte“. Mindestens ebenso häufig zu Wort kommen Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof – umrahmt von einer Vielzahl weiterer bekannter und weniger bekannter Akteurinnen und Akteure. Von Andreas Baader gibt es allerdings nur ein paar tonlose Schnipsel. Auf die Idee, ihn wie seine Genossinnen und Genossen vor der Kamera über Politik sprechen zu lassen, kam in den sechziger Jahren anscheinend niemand. Was „Une jeunesse allemande“ von anderen Filmen über die Radikalisierungsprozesse der 68er Jahre unterscheidet, ist, dass Périot das Quellenmaterial aus den sechziger und siebziger Jahren zunächst für sich sprechen lässt. Zeitzeugen-Interviews gibt es ebenso wenig wie Einspielungen zeithistorischer Erläuterungen oder Interpretationen.
Den spektakulären Kern der Quellen-Collage bilden zweifelsohne die Kurzfilme aus Meins‘ Zeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, darunter allerlei Agitprop, der im Kontext der Enteignet-Springer-Kampagne entstand. Einer der Filme zeigt Gudrun Ensslin, wie sie gekochte Eier in sich hineinstopft, während in einer animierten Szene Ausgaben von „Die Welt“ unter der Tür hindurch in die Wohnung kriechen. Andere Ausschnitte zeigen Horst Mahler und Rudi Dutschke bei der taktischen Vorbesprechung der Demo zum berühmten "Vietnam-Kongress" im Februar 1968. Zu sehen sind Ausschnitte aus zeitgenössischen Kino- und Fernsehfilmen wie Peter Zadeks „Ich bin ein Elefant, Madame“ und „Bambule“ von Ulrike Meinhof. Hinzu kommen Talkshow-Ausschnitte, in denen Meinhof oft die Hauptrolle spielt, sowie Einspielungen aus westdeutschen und französischen Nachrichtensendungen. Manche Sequenzen sind mit zeitgenössischer Musik unterlegt, vor allem von „Ton Steine Scherben“.
So ganz für sich spricht das historische Bild- und Tonmaterial freilich auch in „Une jeunesse allemande“ nicht. Die Lesart, die Périot für die von ihm zusammengetragenen Quellen anbietet, ergibt sich aus deren Montage, aus dem Schnitt. Mindestens zwei Leitmotive lassen sich ausmachen. Da ist zum einen die Frage nach der Genese der von der RAF angewandten Gewalt. Der Film beginnt mit einer Szene aus „Ich bin ein Elefant, Madame“: Ein junger Mann hängt in Bremen eine Hakenkreuzfahne auf und registriert, wie Passantinnen und Passanten reagieren. Am Ende fliegen Fäuste. Wobei unangenehm unklar bleibt, was an der Szene gestellt ist und ob der alte Mann, der den jungen Mann schlägt, vor 1945 eher den Tätern oder den Opfern nahestand. Die Botschaft hingegen, die sich durch den Film ziehen wird, ist deutlich: Die terroristische Gewalt hat ihre Wurzeln auch in den hier zu Tage tretenden, unter der Oberfläche des Wirtschaftswunderlandes brodelnden Aggressionen. Wie Périot im Interview ausführt, hat der Film hier einen – für ihn zentralen – Bezug zur Gegenwart: Auch heute helfe es wenig, bei der Erklärung von Terrorismus nur auf die Terroristen zu blicken und nicht auf die politischen Kontexte, auf die sie Bezug nehmen.
Das zweite Leitmotiv des Films liefert, ebenfalls gleich in den ersten Minuten, Jean-Luc Godard: Auf die Frage, ob er Hoffnungen in das Demokratiepotential der deutschen Jugend setze, antwortet der Regisseur, er sehe dieses Potential einzig bei der Jugend. Die Botschaft ist auch hier eindeutig: Die Aktionen der RAF waren eingebettet in einen politischen Aufbruch, der als generationelles Projekt verstanden werden muss.
Allerdings sträubt sich das Material bisweilen gegen die These von der „einen deutschen Jugend“. Da sind zum einen die jungen Leute, die in den Nachrichtensetzungen zu Wort kommen und sich mit nicht weniger Abscheu über die RAF äußern als die älteren. Auch der Dutschke-Attentäter Bachmann war erst 23 Jahre alt. Auf der anderen Seite wimmelt es in dem Film von „erfahrenen Alten“, die zwischen den jungen Linken und der Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln suchen. Zu nennen sind hier insbesondere Jürgen Seifert (geb. 1928), Heinrich Böll (geb. 1917) und Eugen Kogon (geb. 1903), der Ende der 1960er Jahre in einer Panorama-Talkrunde keinen Hehl daraus machte, dass er die von Ulrike Meinhof vorgebrachten Argumente überzeugend fand.
Freilich spricht letztlich auch dieser Einwand durchaus für Périots Montagetechnik, die dem historischen Material so viel Raum gibt, dass ungleich mehr Platz für eigene Deutungen bleibt, als dies in Dokumentationen sonst oft der Fall ist. Eine Technik, die sicher ihre Tücken hat, aber gerade für Historiker_innen mit Quellen- und Kontext-Kenntnis mitunter anregender sein kann als eine klassische, mit den Kommentaren von Kollegen versehene Geschichtsdokumentation.

 

Dominik Rigoll
Zeitgeschichte Online
2018
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