History, Director's Cut. Radikale Kunst von Jean-Gabriel Periot

 

Das sehen wir tausendfach in schlimmen Dokfilmen: marschierende Pioniere, wenn es um DDR-Kinder geht. Stacheldraht und Marx-Köpfe für den Stalinismus, jubelnde Menschen auf der Mauer für Frrrrreiheit! Das Bild bringt seine Bedeutung mit, breitet sie wohlfeil aus und fertig ist der Lack, die Geschichte, der historische Sieg. Man muss nicht unbedingt auf der Seite der Verlierer stehen, um sich in diesem Kurzschluss nicht wieder zu finden (aber es hilft).

Es ist genau diese Art der Betrachtung der Welt, gegen die Jean-Gabriel Periot mit seinen Filmen angeht. Er nimmt die altbekannten Bilder, hält sie an, zerlegt, setzt neu zusammen, lässt schneller, langsamer oder rückwärts laufen, reißt aus dem Kontext, fügt neuen hinzu, hinterfragt und konstruiert Bedeutungen. Hier, am Ende der Gewissheiten und Konventionen, ist revolutionäre Wachsamkeit angesagt. Aus der Flut von Bildern, die uns umgibt, bedient Periot sich schamlos: Archivmaterial, Fernsehaufnahmen, Werbung, Gemälde, Fotos (eigene und fremde). Er zeigt, wie das Internet zu einem Instrument der Befreiung statt der Versklavung werden kann.

Es geht um jene von der Kritischen Theorie einst geforderte Befreiung der Fantasie. Insofern sind die Filme von Jean-Gabriel Periot - ganz abgesehen von ihren Inhalten und den unverhohlen propagandistischen Titeln - in ihrem Kern zutiefst politisch. Herrschaftssprache - hier die visuelle der Mainstream-Medien - wird als solche dekonstruiert, das Bild neu und anders kodiert. So soll der Betrachter "reale" Bilder nicht als etwas quasi Natürliches und damit Wahres, sondern immer als mit einer bestimmten (politischen) Absicht hergestellte Produkte sehen lernen. Bilder sind für Periot "Dokumente" - Material, um die Realität poetisch und metaphorisch zu umkreisen. Damit steht er, der nie Film studierte, aber seine Arbeitsweise als Cutter entwickelte, Filmemachern wie den von ihm verehrten Dziga Vertov, Guy Debord und Santiago Alvarez nahe. Theoretisch gründet seine Methode jedoch auf der "Ikonologie des Zwischenraums" des deutschen Kulturwissenschaftlers Aby Warburg, der in seinem Bilder-Atlas "Mnemosyne" erstmals unterschiedlichste Bilder zu einem kulturhistorischen Dokument montierte und "Geschichte" genau im "Zwischenraum" zwischen zwei Bildern verortete. Periot: "Diese dunklen und unerwarteten Räume wurden den Betrachtern als Räume der Freiheit nahegelegt, der Freiheit zu denken und die Lücken mit ihren eigenen Gedanken zu füllen. Dort liegt, in einer Zeit, in der die Medien ganz offensichtlich die Zuschauer vom Denken abhalten wollen, der Ort für radikale und politische Kunst."

Jedoch nicht nur in seinen Archivfilmen betätigt sich Periot als fröhlicher Mainstream-Schredderer: Auch im Umgang mit dem von ihm selbst aufgenommenen dokumentarischen Bild operiert er bewusst mit Momenten der Verunsicherung und mit Leerstellen. In diesem, dem besten Sinne sind seine Arbeiten animierte Dokumentarfilme. Ein Begriff, der sich (auch in unserem Verständnis) eben nicht daran festmacht, ob ein paar gezeichnete Männchen durchs Bild rennen, weil ein Filmemacher keine dokumentarischen Bilder zur Verfügung hatte. Etwas animieren heißt, es zum Leben zu erwecken. Genau das macht Periot mit den Dokumenten. Das ist mal wirkliche Freiheit.

 

Grit Lemke
Dok Liepzig 2004